Sagen wir es so: Dass Vanillekipferl aus Mürbteig gemacht werden, ist kein Zufall. Diskussionen zur besten Machart können nämlich äußerst zermürbend sein. Wenn etwa die Poldi-Tant’ – als Archetyp der leidenschaftlichen Laien-Zuckerbäckerin – im fortgeschrittenen Glühweinstadium die
vorweihnachtliche Kipferl-Debatte anreißt, hat das Züge des Ideologischen. Denn die anderen Damen der Runde werden vermutlich auch dieses Jahr nicht mürbe und müde: erstens, um sich nachzuschenken, und zweitens, um einander einzuschenken.
Bedeutet was? Das traditionelle Tauziehen um die idealen Vanillekipferl-Zutaten: Walnüsse im Teig? Sicher nicht! Mandeln? Unbedingt! Haselnüsse? Äußerst fragwürdig! Und das alles dann auch noch verquickt mit der Frage: mit Schale? Ohne Schale? Und wehe jenen, die nicht höchstpersönlich Hand an den Teig legen, sondern eine dieser „modernen“ Küchenmaschinen bemühen. Zumindest hier sind sich die vorglühenden Bäckerinnen einig: Diese Dinger haben einen Haken (was im Hinblick auf die Küchenmaschinenaccessoires stimmt, aber in diesem Fall ganz, ganz anders gemeint ist). Rührend. Einigkeit herrscht auch in der artverwandten Thematik „praktische Kipferlkunst“ – ein kollektives Veto gegen „neumodische Silikonbackformen für die moderne Weihnachtsbäckerei-Produktion“. Es muss gewuzelt werden, bis der Arzt kommt. Außerdem: Wie schaut das aus, wenn alle gleich ausschauen? Zwar sollte das gehobene Kipferl möglichst symmetrisch sein und elegant in der Hand liegen, doch Klone mag keiner.
Der Vergleich macht die Poldi-Tant’ jedenfalls sicher – überzeugt davon, dass sie es ist, die die besten Vanillekipferl in die Runde wirft. Das denken die anderen Tanten naturgemäß auch, weshalb man im Zuge des Diskurses gerne etwas lauter und spitzer wird. Da hört sich die Freundschaft auf, aber Gott sei Dank nur für einen Moment. Ähnlich hitzige Diskussionen könnte man selbstverständlich auch zum Wiener Schnitzel führen (Fleischsorte? Art des Panierens? In welchem Fett?). Aber nicht heute, zu dieser Jahreszeit, in der alle fiebrig darauf warten, dass es leise Mehl und Zucker rieselt. Jetzt geht’s um die Teigwurst, und die Partie „Simmering gegen Kapfenberg“ ist dagegen eine Nikolojause. Nicht minder prekär: die Frage des optimalen Vernasch-Zeitpunkts. Auch dazu gibt es dramatische Auffassungsunterschiede: Von der These, Vanillekipferl würden erst NACH Weihnachten am besten schmecken, weil sie „reifen“ müssten, bis hin zur Überzeugung, dass das feine Gebäck ad hoc verzehrt werden sollte, noch backofenwarm und frisch in Zucker gewälzt. Und warum all diese Kontroversen? Die Causa Vanillekipferl hat viel mit Sozialisierung zu tun. Das frühkindliche Weihnachtskeks-Umfeld prägt Menschen – oft ein Leben lang. Einmal Kipferl mit Mandeln, immer Kipferl mit Mandeln – so haben wir das gesehen, geschmeckt, erlebt, erfahren, geliebt. Wie die Oma, so die Mama, so die Kinder und Enkel. Das ist ungefähr so, als würden wir noch einmal einen Finger tief in eine Dose Niveacreme tunken: der Geruch von damals, die weiche Haut, der weiße Tupf auf der Wange. So fühlt sich das an, so muss das sein, so ist das gut. Für immer verankert. Mutige und Rebellen wagen dennoch Traditionsbrüche, im Sinne der Diversität. Also schiebt man heute vegane Vanillekipferl ins vorgeheizte Backrohr ebenso wie gesunde Kipferl ohne Zucker, dafür mit Vollkornmehl. „Stilbruch – wie Weihnachten an Knäckebrot und Magerkäse!“, empören sich unsere Damen. Und wenn sie nicht gestorben sind, wuzeln sie noch heute. Nach Art der Ahnen. Gut so. Denn das beste Vanillekipferl ist immer noch jenes, das nach Familie schmeckt.
von Gabriele Kuhn